Für jedes Flugblatt stirbt ein Baum: Wir machen Kritik hörbar!

In der Sendung vom 15.8. haben wir verschiedene Statements zu einer Antisemitismusdebatte in Kiel in ihrer chronologischen Reihenfolge eingelesen.
Außerdem haben wir eine längere Reaktion der Gruppe „Subvertere“ aus Kiel auf die Auseinandersetzungen über Antisemitismus diskutiert und ihren verkürzten und recht flachen Rassismusbegriff kritisiert; doch der Reihe nach…

Einer der Steine des Anstoßes, die Kieler Erklärung gegen Antisemitismus.

Danach gab es nocheinmal unsere Stellungnahme „Denk doch mal jemand an die Kinder!“ zu hören, die ihr auf unserem Blog nachhören und nachlesen könnt.

Der chronologisch nächste Text in der Auseinandersetzung, nach einer erneuten antisemitischen Zusammenrottung in der Kieler Innenstadt und einem Eklat auf einem antifaschistischen Bündnistreffen: Der Text „Gegen Kieler Unzumutbarkeiten…“ der Koordination gegen Antisemitismus inklusive der Feststellung, dass viele Kritikpunkte der Gruppe Subvertere ins Leere laufen würden, hätten sie den Text nicht nur selektiv gelesen.

Eine Kritik am verkürzten Rassismusbegriff der Gruppe Subvertere, das eventuell vom gesprochenen Wort leicht abweichende Skript zum Beitrag findet sich weiter unten.

Sehr ausführliche Diskussion und Kritik des Subvertere-Textes, in Hinblick auf Begriffe von Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus und Materialismus.

Skript zur Kritik des Rassismusbegriffs von Subvertere:

Geschätzte Genoss*innen von Subvertere,

Wir haben durchaus erfreut zur Kenntnis genommen, dass ihr mit einem ausführlichen Text unserer Einladung zu einer Debatte über Antisemitismus gefolgt seid. Leider müssen wir einen allzu eklektischen Umgang mit den kritisierten Texten bemängeln und auch über die vermeintlich „wahren“ Motive der „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ zu spekulieren, ist eine Herangehensweise die wir methodisch fragwürdig finden. Es stimmt keineswegs, dass in den Veröffentlichungen der LPG(A) Löwenzahn und der Koordination gegen Antisemitismus, auf die ihr euch ja auch bezieht, der Antisemitismus zu einem Antisemitismus der „Anderen“ gemacht wird. So steht in der Stellungnahme „Gegen Kieler Unzumutbarkeiten…“ explizit:
„Aufgabe einer antifaschistischen Linken wäre auch, das von bürgerlichen Politiker*innen und Medien häufig bediente Bild eines „importierten“ Antisemitismus zu kritisieren und darauf zu verweisen, dass Antisemitismus seit jeher ein ekelerregendes Produkt deutscher Zustände ist, auch wenn die derzeitige Mobilisierungswelle bislang in erster Linie islamische Antisemit*innen auf die Straße getrieben hat.“

Dennoch sprecht ihr, wenn ihr das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus thematisiert, etwas an, wo die deutsche Linke noch etwas Nacharbeit anstehen hat. Auch euer Debattenbeitrag offenbart gewisse Schwächen in der Analyse menschenfeindlicher Einstellungen und Handlungen. Ganz offenbar wird das im Bild, das ihr von muslimischen Migrant*innen zeichnet. So etwa, wenn ihr schreibt:
„Wer härteres Eingreifen der deutschen Polizei gegen muslimische Migrant_innen fordert, rennt bei den deutsche Schergen wie bei der deutschen Gesellschaft und Politik nur rassistisch offene Tore ein.“
Wenn ihr uns, in der Sendung, aber auch bei Treffen hinterher, aufmerksam zugehört hättet, dann wäre euch aufgefallen, dass es uns lieber gewesen wäre, die radikale Linke und die bundesdeutsche Zivilgesellschaft wären in der Lage und Willens gewesen, sich antisemitischen Manifestationen entschlossen entgegenzustellen und diese Aufgabe wäre nicht allein der Polizei überlassen worden.

Und überhaupt: Wo ging es denn um muslimische Migrant*innen in ihrer Gesamtheit? Es ging, bei der Forderung nach der polizeilichen Durchsetzung zivilisatorischer Standards, doch um eine präzise bestimmbare Teilmenge der bundesdeutschen Gesellschaft: IslamistInnen, anti-imperialistische Linke, nicht in Kiel, aber in anderen Städten, auch einige Nazis mit Querfrontambitionen. Dass ihr daraus „muslimische Migrant_innen“ macht, offenbart ein merkwürdiges Verständnis, als seien die antisemitischen Schreihälse repräsentativ für muslimische Migrant*innen in Deutschland. Vielmehr offenbart es ein Bild deutscher Zustände, dass IslamistInnen, deutsche Linke und sogar Nazis in der Lage sind, gemeinsam auf die Straße zu gehen, wenn es denn gegen das gemeinsame Feindbild geht. Eben dieses Bild offenbart sich auch, wenn Parolen, wie „Hamas, Hamas – Juden ins Gas“ gerufen werden, nämlich, dass, wie ihr richtig schreibt, der deutsche Antisemitismus ein Exportschlager ist.

Vollends deutlich wird euer etwas paternalistischer Blickwinkel auf Muslime aber, wenn ihr probiert zwischen islamistisch motivierter Judenfeindschaft und Antisemitismus zu unterscheiden. Allen oben beschriebenen Verstrickungen mit deutschen Zuständen zum Trotz, probiert ihr islamistischen AntisemitInnen zu attestieren, sie seien ja sogar in ihrer Judenfeinschaft rückständig, noch nicht einmal richtige AntisemitInnen.
Das gleiche, wenn ihr islamistischen Antisemitismus als Reaktion auf koloniale Unterdrückungserfahrungen beschreibt: Darüber mag sich bei PalästinenerInnen noch zu streiten sein, aber wie erklärt ihr euch iranische Fahnen auf antisemitischen Demos? Warum sponsert Katar den Terror so fleißig? Eure Analyse der „islamischen Welt“ als Opfer des Kolonialismus ist in ihrer Pauschalität überhaupt nicht haltbar, vielmehr nutzen hier eigenständige, industrialisierte, zum Teil stinkreiche Regionalmächte Antisemitismus durchaus mit Kalkül als Mittel zur Durchsetzung ihrer machtpolitischen Interessen.

Wenn ihr euch am Begriff „rechtfertigen“ in der „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ stoßt, dann überseht ihr, in eurer Angst, jemand wolle euch ein Regelwerk diktieren, ein weiteres wichtiges Funktionsprinzip der aktuellen Welle des Antisemitismus: In der mehrheitsdeutschen Gesellschaft gilt offener Antisemitismus als verpönt, was etwa 20 Prozent der deutschen nicht davon abhält, trotzdem antisemitische Einstellungen zu pflegen. Hier zeigt sich ein Funktionsprinzip des Abschiebens von Schuld an andere, minderprivilegierte, das dem sehr ähnelt, dass sich letztes Jahr in Berlin-Hellersdorf beobachten ließ: Während der deutsche Spießbürger und seine Frau Erna einen biederen Rassismus pflegen und mit Protestschreiben ans Amt und die Lokalzeitung gegen eine Flüchtlingsunterkunft kämpfen, lassen Bewohner der Hellersdorfer Plattenbauten den rechten Arm zum Himmel gereckt und pöbeln rum.
Während also mit dem Finger auf den Antisemitismus oder Rassismus der „Anderen“ gezeigt wird, finden sich Schreiberlinge in den Redaktionsstuben von Süddeutscher und anderen „Qualitätsblättern“, die nicht umhin kommen, ihr Verständnis zu äußern, die Vorfälle zu bagatellisieren und sozialpädagogisch verstehen zu wollen. Die Mehrheitsgesellschaft lässt die „Anderen“ das Aussprechen, was allzuviele Deutsche selbst gerne sagen würden und findet darin gleichzeitig einen Grund, sich eben jenen moralisch überlegen zu füllen.Ihr spracht von dialektischer Analyse: Hier habt ihr sie! Die Aufhebung dieses Widerspruchs ist es also, den gut-bürgerlichen Schreibtischantisemiten und Rassisten ebenfalls auf die Tippfinger zu klopfen, wenn sie mit letzter Tinte ihren Scheiß in die Welt rotzen.

Keine Antwort kann es hingegen sein, sich an der Bagatellisierung von Antisemitismus zu beteiligen, nur weil man ihn – fälschlich – in einem sozial unterprivilegierten Milieu verortet. Ihr sprecht davon, auf Communities zuzugehen und sich auf Gemeinsamkeiten zu verständigen. Nun verbirgt sich hinter dem englischen Begriff der Community nur notdürftig getarnt ein Begriff, der deutlich eher der Gemeinschaft, als der Gesellschaft entspricht. Unser Ansatz wäre eher Solidarität mit denjenigen, die die probieren dem gemeinschaftlichen Horror zu entkommen, aber falsch ist euer Ansatz der Verständigung dennoch nicht. Deswegen würden wir euch gerne anbieten, mit uns eine gemeinsame Soliparty in Kiel zu machen, für das Kirchenasyl eines muslimischen Flüchtlings in der jüdischen Gemeinde in Pinneberg werden nämlich immernoch Spendengelder gesucht. Na, wie wärs?