Folgender Text stammt nicht von uns und gibt nicht die Meinung der Redaktion wieder. Dennoch wird er Thema der heutigen Sendung sein, weshalb wir ihn im Folgenden dokumentieren:
Wer im Walde stehen bleibt, sieht manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht
oder
Schreit ruhig weiter Baum und Pilz an, wenn Ihr reden wollt – ihr findet uns unter den Menschen
Eine Antwort auf die Radiosendung „Das Schweigen im Walde, also schallen wir heraus!“, die „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ und dazugehörige Texte
Dieses Statement unserer Gruppe soll erläutern, weshalb wir der Aufforderung des „Koordinationskreis gegen Antisemitismus“, eine „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ zu unterzeichnen bewusst nicht nachgekommen sind und auch in den politischen Strukturen, in denen wir mitarbeiten, dafür geworben haben, dies nicht zu tun. Eines vorweg zur Verortung unseres nachfolgenden Diskussionsstandes: Anders als dieser Tage viele andere, halten wir uns nicht für ExpertInnen für den Nahostkonflikt. Im Gegenteil mussten wir in den letzten Wochen nicht nur einmal erschreckt feststellen, dass wir jenseits der deutschen Debattenfloskeln weder über eine gute Kenntnis der Materie, noch über eine ausgereifte Position dazu verfügen. Insofern ist dies auch nicht als besonders tiefgründige Analyse des Nahostkonflikts zu lesen, vielmehr geht es um eine Einschätzung der judenfeindlichen und antisemitischen Vorfälle, die den Anlass für die Initiative der „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ gaben und um eine Positionierung unserer Gruppe innerhalb des Kieler Ablegers der mal wieder neu entfachten Antisemitismus-Debatte unter deutschen Linken. Uns war es wichtiger, zeitnah eine solche Begründung vorzulegen, als eine in allen Punkten stichhaltige Position. Wer uns Stricke daraus drehen will, wird wahrscheinlich genügend Anlass finden. Viel Spaß dabei. Wer mit uns in ernsthafte Diskussion treten will, wird vielleicht ebenso viele kontroverse Punkte finden und kann sich dann gern bei uns melden. Ebenfalls anders als dieser Tage viele andere, haben wir keine betonierte Position zu dem behandelten Themenkomplex und sind demnach offen dafür, schlauer zu werden. Warum wir so lange für diese Reaktion gebraucht haben mag mache_r fragen? Nun zunächst hat es, in Anbetracht, dass der diesem Text zu Grunde liegende Konflikt erst wenige Wochen alt ist, gar nicht so lang gedauert. Wir haben für ähnliche Projekte schon deutlich mehr Zeit gebraucht und würden uns wünschen, wenn auch andere sich manchmal mehr Zeit nähmen, um sich in die politische Auseinandersetzung zu begeben. Zum anderen stimmt es: Wir waren nicht in der Lage, umgehend auf die thematisierten Ereignisse zu reagieren. Ratlosigkeit und Schockstarre über ein in dieser Form noch nicht gekanntes Phänomen einerseits, über leider allzu bekannte falsche Reaktionen auch einiger unserer durchaus engeren Genoss_innen anderseits, daraus folgende politische Depressionen, die obligatorische Dauerüberlastung unserer Kapazitäten und so etwas wie Sommerloch mögen die Gründe gewesen sein. Deshalb an dieser Stelle genug der leeren Worte und ab ins Handgemenge.
Unsere Kritik an der „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ entwickelt sich nicht an ihrem Wortlaut, ist sie doch erst einmal sehr allgemein gehalten und eigentlich zu vielen Seiten hin anschlussfähig, sondern anhand dessen, was sie verschweigt. Denn um jemanden aus der Radiosendung der LPG(A)Löwenzahn vom Juli 2014 zu zitieren, auf die sich diese Stellungnahme u.a. bezieht: „…wenn jemand nichts sagt, das ist ja auch schon ziemlich viel, wenn man offensichtlich meint, dass man darüber nicht öffentlich reden will“.
Dass die deutsche Nation nicht nur auf Antisemitismus aufgebaut wurde – d.h. auf der in ihrer Konsequenz mörderischen Erklärung sämtlicher sozialer Krisen und Verunsicherungen als das Werk von Juden und Jüdinnen – sondern seit jeher auch in ein koloniales Machtgefüge eingebunden ist, dass ihr die – rassistisch legitimierte – Erbeutung relativen Wohlstands und damit sozialen Friedens auf Kosten unterworfener Teile der Welt ermöglichte, muss an dieser Stelle hoffentlich nicht weitergehend ausgeführt werden. Es ist daher die Verantwortung einer Linken deutsch-europäischer Herkunft, sowohl Antisemitismus, als auch Rassismus zu reflektieren und zu bekämpfen. Zu reflektieren! Weil das einfache Lippenbekenntnis, das reine sich auf die gute Seite schlagen, nicht reicht. Wir müssen analysieren, versuchen zu erkennen, um an struktureller Veränderung arbeiten zu können. Und ganz im Sinne der Aufklärung, die den Materialismus der Gesinnung und das dialektische Denken dem Dualismus von Gut und Böse vorzuziehen weiß, kann und darf ein Herrschaftsinstrument/eine Unterdrückungsform nicht zu Gunsten einer anderen ausgeblendet und negiert werden.
Dass wir als Linke deutscher Herkunft in besonderer Verpflichtung stehen, Antisemitismus zu bekämpfen, ist für uns unumstritten und dass uns als erste Reaktion ein Schock durch die Glieder fährt, wenn auf Demonstrationen offene Judenfeindschaft zu Tage tritt und antisemitischen Stereotypen freien Lauf gelassen wird, wenn „Tod den Juden“ gefordert und die Vernichtung Israels propagiert wird, ist verständlich. Ebenso sollte uns aber auch ein Schrecken durch die Glieder fahren, wenn Teile der deutschen Linken anfangen gegen muslimische Migrant_innen zu hetzten, wenn zivile Tote im Gaza- Streifen als Kollateralschäden verhöhnt werden und wenn diese im Namen der Emanzipation in eine Kriegsbegeisterung gegen eine ganze, als antisemitische Feinde Israels ausgemachte Bevölkerung verfallen.
Die „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“, zu dessen Unterzeichnung wir und andere aufgefordert worden sind, verschweigt ein wesentliches Detail, das zu benennen notwendig ist, um die ihr zu Grunde liegenden Vorkommnisse zu prüfen und anzugehen. Sie verschweigt eine Reaktion von Teilen der deutschen Linken, die der Ausgangskonstellation der erneuten Eskalation in Israel und Palästina und seinen Stellvertretungen auch vor unserer Haustür nicht gerecht wird.
Bei den offen judenfeindlich auftretenden Demonstrant_innen, die einen durchaus relevanten Anteil an den anhaltenden Protesten gegen den Krieg in Gaza haben (etwa die am 17.7.2014 in Berlin), handelt es sich nicht um einen deutschen Mob, der auf Grundlage eines antisemitischen Weltbildes gegen Juden und Jüdinnen zu Felde zieht, sondern größtenteils um (nicht selten seit ihrer Geburt in Deutschland lebende) Leute, deren (familiäre) Migrationsgeschichte im mittleren oder nahen Osten begann. Das mag vielleicht als ein kleines Detail erscheinen, hat aber eine große Tragweite.
Um auch das klargestellt zu haben: Wir sehen in der Staatsausrufung Israels 1948 einen notwendigen und selbstbestimmten Akt zionistischer Juden und Jüdinnen um sich gegen die jahrhundertelange Ausgrenzung und Gewalt insbesondere in Mitteleuropa zur Wehr zu setzen und letztlich als Konsequenz aus der Shoa. Der Zionismus ist der zunächst einmal legitime Befreiungsnationalismus des Judentums mit all den positiven wie negativen Facetten, die mit dem Konzept des Befreiungsnationalismus einhergehen. Wir sind demnach keine Antizionist_innen. Das zu erwähnen ist keine „linke Staatsraison“ und kein Lippenbekenntnis, sondern Teil unserer antifaschistischen Überzeugung und historischen Verantwortung als Linke deutscher Herkunft. Dies ist aber nur die eine Seite des Nahostkonflikts, die wir zu berücksichtigen haben, wenn wir uns zu den aktuellen judenfeindlichen Geschehnissen auf deutschen Straßen verhalten wollen. Um den Zionismus zu seinem Ziel zu führen, die Gründung eines jüdischen Staates, war es nötig, dass sein Staatsgebiet, anders als bei anderen Befreiungsnationalismen, erst noch erschlossen und besiedelt werden musste. Der Zionismus kann insofern als befreiungskolonialistisches Projekt bezeichnet werden, der Staat Israel begann als jüdische Siedlungskolonie in Palästina, deren Staatwerdung ab 1918 während der britischen Mandatsherrschaft erklärtermaßen unterstützt wurde. Die Probleme, die sich aus diesem kolonialistischen Charakter nahezu zwangsläufig ergeben, war den frühen Zionist_innen sehr wohl bewusst und führte zu der Selbstverpflichtung, die Gleichberechtigung der bereits ansässigen arabischen Bevölkerung zu achten und den Interessenausgleich zu suchen. Dieser ist aus verschiedenen Gründen, die historisch nicht nur einseitig zu suchen sind, bis heute ganz offensichtlich gescheitert. Der Zionismus an sich ist nichtsdestotrotz kein imperialistisches Projekt, sein Ziel war nie die ökonomische Unterwerfung und Ausplünderung des arabischen Raums, sondern eine nationalstaatlich abgesicherte Existenz von Juden und Jüdinnen. Er reihte sich jedoch, da die Vorbereitung Israels im Rahmen der Aufteilung des arabischen Raums durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs begann, bei den westlichen Hegemonialmächten ein und trat damit auch das koloniale Erbe insbesondere der Briten an. Israel wurde auf diesem Weg AUCH für die (neo-)kolonialistischen und geopolitischen Interessen des Westens nutzbar gemacht, genauso wie es verlässlicher Stützpunkt des Westens zunächst im kalten Krieg, heute im arabischen Raum ist. Das delegitimiert die Idee des Zionismus und die Existenz Israels nicht – Antisemitismus und seine sozio-ökonomischen Grundlagen konnten weltweit weiterhin nicht überwunden werden – machte und macht den jüdischen Staat aber nahezu zwangsläufig zu einem Akteur in einer von krasser Ungleichheit der Machtmittel gekennzeichneten Auseinandersetzung um (neo)-kolonialistische Herrschaft des Globalen Nordens über den Süden und damit zum stellvertretenden Ziel ebenso legitimer anti-kolonialistischer Kritik. Die Vehemenz mit der dies oftmals geschieht, kann von uns aus gern als irrational benannt werden. Grundsätzlich ist es aber selbstredend das Recht der Palästinenser_innen, sich gegen kolonialistische Unterdrückung zur Wehr zu setzten. Diese Feststellung impliziert noch keine „für“ oder „gegen“ Positionierung, sie ist erst einmal ein Fakt.
Der deutsche Antisemitismus, auf dessen Grundlage ein Großteil der Misere in Nahost entstand und dessen komplexe und mörderische Auswirkung bis heute seine blutige Spur zieht, muss anders betrachtet werden, als die Judenfeindschaft unter den Palästinenser_innen und ihren Unterstützer_innen, die einen legitimen anti-kolonialen Kampf um gleiche Rechte besetzt und derzeit verstärkt in reaktionäre Bahnen lenkt. Das macht die ganze Scheiße nicht zu einer ungefährlicheren Judenfeindschaft, dass diese sehr wohl anschlussfähig für antisemitische Stereotypen ist und in geschlossene antisemitische Weltbilder abgleiten kann, zeigen entsprechende massiv auftretende Äußerungen und Inhalte rund um die Proteste gegen die israelischen Angriffe auf Gaza. Aber zu erkennen, aus welchen Lebensbedingungen und Machtverhältnissen sie sich entwickelt hat, ist notwendig um zu erkennen, wie ihr beizukommen ist. Gerade aus unserer deutschen Geschichte heraus ist eine Gleichsetzung einer pro-Palästina/Anti-Kriegs-Demonstration, die in Teilen oder zum Teil mehrheitlich judenfeindlich bis antisemitisch agieren, mit einen Nazi-Aufmarsch oder mit einem deutschen antisemitischen Mob nicht nur unzulässig, sondern schlichtweg falsch. Wenn von Palästinenser_innen oder ihren Unterstützer_innen, die sich aus einer eigenen rassistischen/kolonialistischen Unterdrückungserfahrung heraus auf deren Kampf beziehen, in einer Kriegssituation die an die christlich-antijudaistische Ritualmordlegende anknüpfende Parole „Kindermörder Israel“ gerufen wird, hat dies definitiv einen anderen Kontext, als wenn ein_e Mehrheits-Deutsche_r meint dies rufen zu müssen. Wie schnell sich dumme Parolen auf einem Massenevent wie Demonstrationen durchsetzen, weiß jede_r, der_die schonmal an einer durchschnittlichen Antifa-Demo teilgenommen hat. Folglich muss auch die Praxis antifaschistischer Intervention gegen Judenfeindschaft und Antisemitismus in der hiesigen pro-palästinensischen Bewegung eine andere sein, als bei antisemitischen Nazi-Aufmärschen. Wer implizit das militante Angreifen oder andere konfrontative Aktionen bei einer von judenfeindlichen/antisemitischen Inhalten geprägten pro-Palästina-Demonstration durch Linke deutscher Herkunft fordert, weil dies Praxis bei Naziaufmärschen ist, begibt sich nicht nur auf rassistisches Glatteis, sondern ist geradewegs durchgebrochen. Darüber täuscht auch nicht hinweg, wenn in der oben genannten Radiosendung versucht wird, sich durch „anti-patriarchale“ Floskeln an die ansonsten so geschmähte radikale Linke anzubiedern. Das inflationäre Kritisieren „der patriarchalen migrantischen jungen Männer“ bläst nur einmal mehr in das selbe rassistische Horn wie die Bundesregierung, die ja auch ganz selbstlos die Frauenbefreiung in Afghanistan voranbomben wollte. Es ist immer leichter das Patriarchat „der anderen“ zu kritisieren, hier vor Ort bleibt Mann im Studio dann aber doch lieber unter sich.
Wer härteres Eingreifen der deutschen Polizei gegen muslimische Migrant_innen fordert, rennt bei den deutsche Schergen wie bei der deutschen Gesellschaft und Politik nur rassistisch offene Tore ein. Die anti-arabische bzw. anti-muslimische Hetze in Deutschland wächst derzeit mal wieder parallel mit der ritualisierten Versicherung der etablierten Politik, dass man Antisemitismus in Deutschland keine Plattform gebe. Das Letzte ist in Deutschland nach wie vor eine Lüge und wird benutzt um ersteres, nämlich den seit dem 11. September erstarkten Rassismus gegenüber arabischen Migrant_innen weiter zu schüren.
Durch das Schweigen zu den sozialen Hintergründen derjenigen, die derzeit mehrheitlich für die Welle judenfeindlicher Äußerungen und Übergriffe verantwortlich sind, das Schweigen zu dem rassistischen Klima, welches gerade sowohl in der Linken wie auch in der bürgerlichen Presse herrscht und dem Schweigen zur kriegerischen Eskalation im nahen Osten, in dessen Rahmen all dies stattfindet, befindet sich die „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“, die sich nicht einmal bequemt solcherlei Widersprüche auch nur anzudeuten, mitten im rechten Mainstream. Irgendwo zwischen PI-News, Kristina Schröders „Expertise“ über Extremismus, BILD und den Grünen, die mit der propagandistischen Begründung des deutschen Eintritts in den Jugoslawienkrieg 1999 nicht trotz, sondern wegen Auschwitz in der Lage waren, die Linke in Deutschland in den bürgerlich-moralistischen Würgegriff zu nehmen: Erst gegen den „zweiten Hitler“ Milošević, dann gegen den „neuen Hitler“ Saddam Hussein und folgend gegen die Massen an „islamischen Hitlers“.
Wenn uns als deutsche Linke also irgendeine Aufgabe zufällt, dann ist es sowohl auf den Antisemitismus in Deutschland, als auch auf die rassistischen und anti-muslimischen Zustände hier aufmerksam zu machen und sie zu bekämpfen, und nicht zu versuchen sie weiter einzuheizen. Eine weitere Perspektive wäre es, Kontakt zu beiden Communities zu suchen und zu versuchen einen gemeinsamen Ausdruck gegen Antisemitismus, Rassismus/Kolonialismus und Krieg zu finden. Die Forderung deutscher Linker an deutsche Linke, sich für eine Seite zu entscheiden, ist angesichts der deutschen Verwicklung in den Kolonialismus und des deutschen Exportgutes Antisemitismus falsch und auch unsinnig.
Man kann und muss die historische Notwendig Israels aus der deutschen Geschichte heraus erklären und verteidigen. Und in der derzeitigen Situation bleibt die Existenz Israels unabdingbar: Wir machen uns keine Illusionen darüber, dass, würde es sich jetzt entwaffnen, Israel blutig überrannt würde. Wir müssen uns aber auch die Arroganz und die Sinnlosigkeit vor Augen führen, hier als deutsche Linke fernab vom Geschehen über eine Lösung in Nahost zu labern. Egal ob wir, wofür unsere reaktionär abgedrifteten Genossen gerade einstehen, wahlweise für den Erhalt des Status Quo oder aber für die Beseitigung Israels agitieren, von einem nicht-kapitalistischen und nicht-rassistischen Staat Israel träumen, von einem vereinten sozialistischen säkularen Palästina, einem Organisationsmodell jenseits von Staat und Nation oder von einer Zwei-Staaten-Lösung: Alles bleibt reine Fiktion. Wir sollten als radikale Linke auf eine unmittelbare Perspektive bauen, die auf unseren Grundsätzen fußt und deren revolutionären Standpunkt aufrecht erhält. Dementsprechend kann unsere Solidarität derzeit nur den im Kriegsrausch zunehmend marginalisierten, kämpfenden emanzipatorischen Kräften in Israel und Palästina gelten, die einen wirkliches Interesse an Frieden in Nahost vertreten. Und dieser ist ohne eine politische Lösung des sozialen Konflikts zwischen dem palästinensischem Befreiungskampf gegen Kolonialismus und dem zionistischen Projekt zur Selbstverteidigung der Juden und Jüdinnen vor Verfolgung und Vernichtung nicht zu haben. In diesem Konflikt sitzt der Staat Israel machtpolitisch (noch) am längeren Hebel und trägt eine entsprechende Verantwortung. Diese wahrzunehmen, ist eine legitime Forderung des palästinensischen Kampfes. Wer eine militärische „Lösung“ des Konflikts fordert, wie es derzeit wieder einmal Teile der deutschen Linken unter lautem Kriegsgeschrei tun, propagiert seine unendliche Eskalation, die nur mit der Auslöschung einer der Kriegsparteien enden kann. Eine politische Lösung ist bitter nötig, auch um zu verhindern, dass Israel tatsächlich eines Tages als stellvertretendes und verkürztes Feindbild eines fundamentalistisch und judenfeindlich gewendeten Kampfes der arabischen Welt gegen (neo)-kolonialistische Unterdrückung überrannt wird. Dessen katastrophale Folgen wollen wir uns nicht ausmalen. Genauso, wie wir uns weigern, trotz aller Aussichtslosigkeit nicht über den katastrophalen Status Quo hinauszudenken.
Worauf zielt die „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ also ab, wenn sie den Kontext der aktuellen Welle anti-israelischer, judenfeindlicher und antisemitischer Vorfälle verschweigt und an wen ist sie überhaupt adressiert? Ihr Schlusssatz „Wer sich an antisemitischen Demonstrationen beteiligt oder diese rechtfertigt (Hervorhebung von uns) oder wer zum Boykott Israels aufruft, ist kein Bündnispartner für emanzipatorische Politik, sondern vertritt Standpunkte, die wir bekämpfen.“ lässt tief blicken. Wie dargelegt kann die Erklärung nicht einfach an ihrem Wortlaut bewertet werden, sondern muss in den Kontext der derzeit in der (mal wieder) heftig geführten Debatten gesehen werden, in der „rechtfertigen“ mittlerweile zu einem bis zur Unkenntlichkeit zerstückelter und dehnbarer Begriff geworden ist, so dass er als politischer nur noch auf einer Metaebene eine Relevanz besitzt. Das Aufmerksam machen darauf, dass durchaus Unterschiede zwischen Naziaufmärschen und pro-Palästina-Demonstrationen mit judenfeindlichen Tendenzen bestehen, mag da für einige schon reichen, um eine Rechtfertigung von Antisemitismus zu erkennen. Dass der Kontext Antisemitismus-Debatte unter deutschen Linken sehr deutlich gegeben ist, dass es sich bei der „Kieler Erklärung gegen Antisemitismus“ eben nicht nur um „eine Zusammenfassung von Basisbanalitäten ernsthafter antifaschistischer Arbeit“ handelt, verdeutlichen auch zwei Nachträge aus dem Umfeld der Initiator_innen, die zwar nicht primär ausschlaggebend waren, warum wir die Erklärung nicht unterschrieben haben, aber dennoch nicht unwichtig zu benennen sind: Wer das Nicht-Unterschreiben der Erklärung mit der Weigerung gegen Antisemitismus vorzugehen gleichsetzt, wie sich aus den Texten „Gegen Kieler Unzumutbarkeiten…“ und „Denk doch mal jemand bitte an die Kinder!“ unschwer herauszulesen ist, stellt diese Behauptung entweder aus taktischem Kalkül – d.h. um ein System von Regeln zu setzen, aus denen dann Zirkelschlüsse gezogen werden können – oder aber aus Größenwahn auf, weil man sich tatsächlich als die Speerspitze gegen den Antisemitismus sieht. Für letzteres ist das Schwenken von Israel-Fahnen und eine Erklärung an die Szene dann aber doch ein bisschen wenig und nicht wirklich angebracht um ein judenfeindliches bis antisemitisches Klima zu ändern. Wir unterstellen, dass mit dieser Erklärung ganz andere Zwecke verfolgt werden vor deren Karren wir uns nicht als Zugvieh spannen lassen wollen, da noch nicht einmal das ernsthafte Interesse besteht, sich auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Wer sein Urteil schon gefällt hat und sich des Antisemitismus eines vermeintlichen Kollektivs der Bewegungslinken bereits sicher ist, nur noch die genaue Lokalisierung der Trennlinie zu Euch ausloten will und alle Widersprüche ausblendet mit denen eine Linke konfrontiert ist, die in diesem Scheißhaufen zu schwimmen, zu kämpfen, zu negieren und Veränderung zu bewirken versucht, ohne eine Tür zur Auseinandersetzung offenzuhalten, dem geht es in erster Linie um Nabelschau und Selbstbefriedigung. Und das ist dann wirklich, um diesen Absatz mit einem weiteren Zitat zu schließen, „verdammt deutsch“.
Was also ist unser Vorschlag, wie eine Linke deutscher Herkunft mit anti-jüdischen und antisemitischen Positionen auf migrantisch geprägten pro-palästinensischen Demonstrationen umgehen sollte? Einfacher ist zu beantworten, wie sie es nicht zu tun hat. U.a. in der genannten Radiosendung der LPG(A)Löwenzahn wird eine Lesart des Angriffs auf die Israel-Fahne am Rande einer spontanen pro-Palästina-Demonstration in Kiel verbreitet, die in etwa so zusammen gefasst werden kann: 350 Antisemiten demonstrieren judenhassend durch Kiel und verprügeln dabei mit einer Gruppe von 60 Personen einen Antifaschisten. Wir meinen, dass diese Lesart höchstens als eine unter vielen zulässig ist, auf jeden Fall nicht in der Lage ist, den Vorfall angemessen zu beschreiben. Das Hissen einer Israels-Fahne kann, genauso wie ein Angriff auf sie, aufgrund der skizzierten je nach Perspektive vielschichtigen Bedeutung des Staates Israel, aus einer Vielzahl an Motivationen erfolgen: Eine Israel-Fahne mag als Symbol gegen Antisemitismus verwandt werden, sie kann als Ausdruck des Judentums verwendet werden, sie kann als Demonstration für das Existenzrecht des jüdischen Staates benutzt werden, sie kann die Unterstützung einer Fußballmannschaft ausdrücken, sie kann – insbesondere von identitätsbedürftigen deutschen Antifas bekannt – zu szeneinternen Provokationszwecken bzw. als Mode-Accessoire missbraucht werden oder aber sie kann, insbesondere wenn unter dieser Fahne zeitgleich ein massiver Krieg geführt wird, als Symbol für kolonialistische Herrschaft und ihre kriegerische Durchsetzung gewertet werden. Selbst wenn wir dem betroffenen Fahnenträger großzügig die edle Absicht unterstellen, der pro-palästinensischen Demo gegen den Krieg in Gaza die Israel-Fahne entgegen gehalten zu haben, um gegen dort vertretene judenfeindliche und antisemitische Positionen zu intervenieren, so müssen wir die Aktion als schlichtweg verantwortungslos kritisieren. Gerade in Kriegszeiten müssen wir einem_r Palästinenser_in und ihren Freund_innen keinen Antisemitismus unterstellen, um uns zu erklären, weshalb er_sie sich von der Fahne provoziert fühlt und dementsprechend reagiert. Das Zeigen der Israel-Fahne in dieser Situation kann aus dieser Perspektive nur als Gegendemo, d.h. als Parteinahme für die israelischen Angriffe auf Gaza gewertet werden. Und an dieser Stelle ist der Punkt erreicht, an dem wir uns politisch nicht mehr solidarisch mit der Aktion erklären können. Das heißt nicht, dass wir das Zeigen einer Israel-Fahne in anderen Situationen nicht auch anders bewerten würden. Eine Praxis gegen Judenfeindlichkeit und Antisemitismus in der pro-Palästina-Bewegung vorzugehen, kann allerdings keineswegs darin bestehen, sich mit der Fahne ihres ärgsten Kontrahenten am Rande ihrer Kundgebungen zu postieren und sich anschließend darüber zu beklagen, das dies nicht auf Sympathie gestoßen ist. Es mag auch den Zustand der deutschen Antifa-Bewegung treffend charakterisieren, wenn vielerorts als einzige (inhaltliche) Antwort auf (unorganisierte) reaktionäre Tendenzen nur noch ein „Halt’s Maul!“, „Auf die Fresse!“ oder „Bomben drauf!“ erfolgt und ihre sozialen Grundlagen nicht mehr erkannt werden (wollen). Dies mag bei gesellschaftlich relativ irrelevanten NS-Nostalgievereinen noch einigermaßen funktionieren, hat uns aber schon im Umgang mit einer zeitgemäßeren Spielart eines politischen Projekt mit faschistischen Zügen wie der AfD vor erhebliche Probleme gestellt.
Eine Praxis gegen Judenfeindlichkeit und Antisemitismus in der pro-Palästina-Bewegung vorzugehen kommt u.E. nicht umhin, ihr Kernanliegen: ein gleichberechtigtes würdevolles Leben der arabischen Bevölkerung in Palästina/Israel, ernstzunehmen und ihm eine Legitimation zuzusprechen. Wer nur ein „Findet Euch mit dem Status Quo ab, ihr scheiß Antisemiten!“ anzubieten hat, wird mit seiner berechtigten Kritik an den antisemitischen Tendenzen niemals Gehör finden, sondern die dahinter stehende Wut über einen jahrzehntelang ungelösten sozialen Konflikt nur noch verstärken. Wir halten die Ansätze, wie sie Genoss_innen bisher am fruchtbarsten in Berlin (24.7.2014) und Frankfurt (24.7.2014) ausprobiert haben, (gemeinsam mit migrantischen Linken) für eine politische Lösung des Israel-Palästina Konflikts und gegen den Krieg zu demonstrieren und dabei judenfeindliche und antisemitische Positionen und reaktionäre Organisationen konsequent und auch praktisch auszuschließen, für die richtige Stoßrichtung, um sich dem Problem angemessen zu nähern. Dass heißt in Konsequenz dann aber eben auch in Situationen zu gelangen, in denen man sich tatsächlich mit Leuten und Positionen auseinandersetzen muss, die man politisch grundlegend ablehnt. Auch wenn dies bisher nur auf Papier geschrieben steht, behalten wir uns grundsätzlich vor, dies auch zu tun. Unabhängig davon werden wir uns auch weiterhin wann immer dies nötig ist daran beteiligen, jüdisches Leben und jüdische Einrichtungen insbesondere in Deutschland zu schützen, wann immer diese angegriffen werden, weil sie jüdisch sind. Was das angeht verweilen auch wir an der Oberfläche und sparen uns die Rücksicht auf die konkreten Hintergründe der Urheber_innen.
Wir erwarten nicht wirklich, dass wir denjenigen, die die reine Lehre der Politik vorziehen und sich zur Analyse des Israel-Palästina Konflikts ausschließlich der israelischen Kriegspropaganda bedienen, mit einem solchen Ansatz tatsächlich weitergeholfen haben. Alle anderen laden wir dazu ein, diese Überlegungen weiterzuführen oder es besser zu machen.
Subvertere Kiel, 12.8.2014
Gruppe Subvertere (Kiel)